Wir haben unseren Berufsbildungsbereich besucht und ein Arbeits-Projekt über mehrere Wochen begleitet. Wie wichtig Lernen für unseren Körper und unsere Psyche ist, haben wir bereits erfahren. Doch vielen Menschen fällt es schwer, Neues zu lernen und Gelerntes im Gedächtnis zu behalten. Daher ist nicht nur die klassische Schulzeit für sie eine enorme Herausforderung, sondern auch der Einstieg ins Berufsleben. Der Berufsbildungsbereich der Zeesener Werkstatt für Menschen mit Behinderung hilft ihnen, diesen wichtigen Übergang zu meistern.
Wichtige Langzeitprojekte
„Guten Morgen, kommt bitte alle nach vorne und sucht euch einen Platz“, fordert Gruppenleiter Christian Jaria seine stark geschrumpfte Klasse auf. Wo üblicherweise 20 bis 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zusammenkommen, versammeln sich acht Jugendliche vor einer Leinwand. Viele seiner Schützlinge sind entweder im Urlaub oder gerade im Praktikum. Für den verbliebenen Rest von ihnen startet die Wiederholung. Was hatten sie gestern gelernt? Was hatten die Menschen in dem Lehrvideo erzählt? Nur mit Mühe kann Herr Jaria einige Erinnerungsfetzen wach kitzeln. Er startet das Video erneut. In der kleinen Reportage stellen zwei Expertinnen zwei Kräuter vor: Salbei und Thymian. Wie sehen die Kräuter aus, wie schmecken sie, wie duften sie? Welche Lebensräume benötigen die Pflanzen und auf welche Weise kann man sie verwenden?
Neben wichtigen Fächern wie Mathematik und Deutsch werden im Berufsbildungsbereich in Langzeitprojekten soziale, lebenspraktische und berufliche Kompetenzen trainiert. Sie ergänzen die täglichen Schnupperarbeiten in verschiedenen Berufsfeldern. Das Projekt dieses Halbjahres ist der Bau und Betrieb einer Kräuterschnecke. Zum Ende des Jahres sollen alle Teilnehmenden acht Kräuter kennen, bestimmen und pflegen können und um ihre Anwendungsbereiche wissen.
Der Mix macht's
Nachdem das kurze 15-minütige Lehrvideo nochmal angesehen wurde, versucht Christian Jaria erneut, wichtiges Wissen bei den Teilnehmenden abzurufen. Wenn auch nicht perfekt, klappt es jetzt deutlich besser. Um das Wissen besser zu verankern, basteln alle ein Memory. Dazu werden Druckvorlagen einzelner Kräuter samt Bild ausgeschnitten. Während das einigen ganz leicht fällt, brauchen andere Unterstützung beim Halten und Benutzen der Schere. Alle Papierschnipsel werden nun zwischen zwei Folienblätter geklemmt und laminiert. Danach muss alles erneut zurechtgeschnitten werden. Hier ist Ausdauer und Konzentration gefragt. Für manche eine echte Herausforderung. Doch irgendwann ist es geschafft: das Memory ist fertig. Aus dem heimischen Garten hat Herr Jaria Kräutertöpfchen mitgebracht, darunter verschiedene Sorten Salbei und Thymian. Können die Teilnehmenden die Kärtchen zu den richtigen Pflanzen zuordnen? Einige Schülerinnen und Schüler sind ratlos: Das Bild des Salbeis auf dem Kärtchen passt nicht 100-prozentig zu der Pflanze, die in der Mitte des Tisches auf ihre Bestimmung wartet. Herr Jarias Kollege, Gruppenleiter Thomas Ninnemann, ermutigt, die Pflanze mit allen Sinnen zu entdecken. Wie fühlt sie sich an, nach was fühlt sie sich an, nach was riecht oder schmeckt sie? Während einige sich unangenehm an Medizin erinnert fühlen, schwärmen andere von Halslutschtabletten oder Tees. Klar, das ist Salbei! Auf diese Art und Weise wird auch der Thymian schnell ausgemacht. Hier sind die Assoziationen deutlich freundlicher: Nudeln mit Tomatensoße und Pizza. Lecker! Doch ins Klassenzimmer sind nicht nur Salbei und Thymian umgezogen, auch Schnittlauch und Pimpinelle hat Christian Jaria aus dem Garten mitgebracht. Nach und nach werden so wichtige Kräuter vorgestellt und theoretisch wie auch praktisch neues Wissen aufgebaut und gefestigt. Diese Kombination, die gleichen Informationen mit verschiedenen Sinnen und in verschiedenen didaktischen Methoden zu erschließen und zu wiederholen, hat die besten Aussichten auf den angestrebten Lernerfolg. Verschiedene Hirnareale werden so aktiviert und am Lernprozess beteiligt.
Berufliche Schnittpunkte
So wurde über mehrere Wochen hinweg die spannende Welt der Heilkräuter erforscht. Jetzt geht es in die Planung der Kräuterschnecke. Welches Baumaterial wird benötigt, wie kann es besorgt werden und wie groß soll die Kräuterspirale überhaupt werden? Im Garten des Berufsbildungsbereiches sind alle Teilnehmenden aktiv. Sie suchen sich einen geeigneten Platz, legen mit Steinen den Grundriss der Kräuterschnecke aus und überlegen sich, wie viel Erde und Steine für die geplante Größe der Spirale benötigt wird. Bereits eine Woche später kann der Bau beginnen. Je nach Kraft, Beweglichkeit und Behinderung versuchen die Gruppenleiter Jaria und Ninnemann jeden Jugendlichen beim Aufbau zu integrieren und wechseln die Aufgaben unter allen ab. Während eine Gruppe die Steine auslegt, stabilisiert eine andere Gruppe die Steine mit einem Gummihammer ins Fundament. Wiederum andere harken die Erde locker und schippen sie in die stetig wachsende Kräuterschnecke.
Nachdem die Erde einige Tage sacken konnte und immer wieder aufgefüllt wurde, hat sich die Gruppe auf mehrere Kräuter geeinigt, die in die Kräuterspirale gepflanzt werden sollen und weiß nun auch, welche Pflanze den trockeneren und sonnigeren Standort an der Spitze der Kräuterschnecke bevorzugen, oder lieber im schattigen und feuchteren Fuße der Spirale leben. Eigens dafür haben sie auch Namensschilder mithilfe der Holzwerkstatt gebastelt, sodass sie auch noch Monate später wissen, wo welche Pflanze wächst.
Dann ist es endlich soweit. Die Pflanzen dürfen in ihr neues Zuhause einziehen! Auch hier zeigt sich wieder, wem die Gartenarbeit liegt und für wen das überhaupt nichts ist. Durch den Bau der Kräuterschnecke kommen manche Teilnehmerinnen und Teilnehmer zum ersten Mal zur Garten- und Projektarbeit und können so ihre Talente und Interessen ausloten. Insgesamt haben sie zwei Jahre Zeit, im Berufsbildungsbereich berufliche Vorlieben zu entdecken, wichtige Kompetenzen zu entwickeln und über Praktika herauszubekommen, wo ihre berufliche Perspektive liegen könnte. Durchaus also möglich, dass einige Jugendliche in den kommenden Wochen in den Arbeitsbereich der Gärtnerei wechseln, um dort für einige Tage und Wochen zu testen, ob ihr Interesse und grüner Daumen für eine Vollzeit-Tätigkeit ausreichen.
Ein Thema - viele Perspektiven
Doch mit der bepflanzten Kräuterschnecke ist das Langzeitprojekt noch längst nicht abgeschlossen. Es müssen die Kräuter weiterhin mit ausreichend Wasser versorgt und wuchsfreudige Pflanzen zurückgeschnitten werden, damit auch die Nachbarn noch ausreichend Sonne bekommen. Sobald die Kräuter sich an den neuen Standort gewöhnt haben und angewachsen sind, werden sie nach und nach beerntet und weiterverarbeitet. Was sich Tolles aus ihnen kochen, sieden, ziehen, mischen, mörsern, trocknen und wo kann man sie überall einsetzen in der Küche, in der Medizin oder als Abwehr- oder Duftmittel? Auch in dieser Projektphase werden Fertigkeiten entwickelt und entdeckt. Wer sich nicht als Gärtner sieht, fördert vielleicht jetzt sein Talent als Koch zutage.
In jedem Fall konnten die Teilnehmer und Teilnehmerinnen ein Thema ganzheitlich behandeln, neues Wissen aufbauen, Berufsbilder kennenlernen, ihre Teamfähigkeit sowie andere wichtige Sozialkompetenzen schulen. „In diesen zwei Jahren, die die Jugendlichen bei uns im Berufsbildungsbereich verbringen, werden sie ohne Leistungsdruck und individuell ihrer Fähigkeiten auf das Arbeitsleben vorbereitet und können in verschiedene Berufe reinschnuppern und sich austesten. Idealerweise entdecken sie so ihren Traumjob und schaffen den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt“, so Arlett Brossok, komissarische Leiterin des Berufsbildungsbereiches. Dafür braucht es natürlich auch inklusive Arbeitgeber. Doch noch gibt es nicht genügend davon. Wer nach den zwei Jahren keinen Arbeitsplatz gefunden hat, kann vom Berufsbildungsbereich in einen der Arbeitsbereiche der Zeesener Werkstatt wechseln, so zum Beispiel in die Gärtnerei oder in die zentrale Küche. Denn jeder sollte die Chance auf sein berufliches Glück bekommen!