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Teil 3

Mein Tag als
Quereinsteiger in der Pflege

Wo ist Herr H.?

Und während ich noch hadere, ob man Frau F. jetzt tatsächlich alleine zurück lassen kann, zieht Nadine entschlossen die Tür zu. Ihr geht es gut, sagt sie mir. Sie wird noch das restliche Marmeladenbrot essen, wahrscheinlich auch noch alle Kekse und dann fernsehen. Was machen wir wegen ihren starken Rückenschmerzen? Nadine hadert: „Es ist bei Frau F. schwierig zu beurteilen, ob das Klagen der Demenz geschuldet oder tatsächlich da ist. Aber sicherheitshalber informieren wir den Arzt.“ Als ich schon fast wieder draußen in der Sonne stehe, bremst mich Nadine ab und näselt an ihrem Schlüsselring. „Wir haben hier noch einen Kunden.“ Von 4,1 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland, werden mehr als 3 Millionen und damit 80 % zu Hause gepflegt. Das sind vier von fünf Pflegebedürftigen. Während bei 56 % der betroffenen Menschen die Angehörigen mit unterstützen, sind 24 % der Pflegebedürftigen komplett von ambulanten Pflegediensten wie dem ASB Mittel-Brandenburg abhängig. Lediglich 20 % und somit rund 820.000 Menschen mit Pflegebedarfen sind in vollstationären Einrichtungen untergebracht.

Nadine klingelt in der Erdgeschosswohnung, zwei Etagen unter Frau F. und lässt sich ebenso unverzüglich rein. Als sie die Tür von Herrn H. aufstößt, schreit mich ein Radiomoderator laut an, welches Wetter mich heute Nachmittag erwarten würde. „Guten Morgen Herr H.“, brüllt Nadine diesem Krach entgegen. Keine Reaktion. Wir treten ein. Keine Reaktion. Nadine läuft bis zum Wohnzimmer, guckt ins Schlafzimmer – keine Spur von Herrn H. Als sie wieder bei mir zurück ist, fällt ihr Blick rechts in die Küche. Herr H. grinst, winkt und kaut weiter genüsslich auf seinem Honigbrötchen rum. Er sieht nicht wie jemand aus, der auf Pflege angewiesen wäre, denke ich mir. Ein rüstiger Endsiebziger mit einem freundlichen Gesicht, verschmitzten Augen und einer kleinen Brille auf der Nase. Sein etwas zerzaustes Haar erinnert mich an das Klischee eines zerstreuten Professors. „Nicht erschrecken, wir sind heute zu zweit. Das ist die Frau Becker.“ „Guten Morgen“, richte ich meine Wünsche in die Küche hinein und folge Nadine ins Wohnzimmer. „Was machen wir?“ „Wir stellen Medikamente.“ Nadine schnappt sich einen großen Ordner auf dem Couchtisch, holt eine Batterie an Tablettenpackungen aus einer Ecke hervor und studiert den Medikamentenplan von Herrn H. In einem großen 7-Tage-4-Zeiten-Tabletten-Organisierer schiebt sie die Abdeckung zurück, schaut nochmal kritisch auf den Plan und sucht sich das erste Medikament. Nach und nach füllen sich alle Fächer der kleinen Box und leere Tablettenstreifen türmen sich auf dem Tisch. Herr H. schlurft ins Wohnzimmer. Nicht nur die Vielzahl an Tabletten, sondern auch sein Gang verrät, dass das Alter seine Spuren hinterlassen hat. Mist, ich bin im Weg, denke ich noch bei mir, da schiebt sich Herr H. schon an mir vorbei, tätschelt liebevoll meinen Arm – „Alles gut meine Liebe.“ –  und lässt sich schräg gegenüber in seinen Lieblingssessel plumpsen. Herr H. kämpft noch mit den Nachwehen einer Erkältung. Stark nuschelnd beschwert er sich, was ihm nun für weitere Medikamente aufgebrummt wurden, aber das sein Husten nicht weggehen wollte. Nadine hakt nach, welches zusätzliche Erkältungsmedikament er schon wie lange nehme und ob sie nicht doch den Arzt informieren solle? „Gibt es etwas Interessantes in der Zeitung?“, fragt Nadine laut gegen die Musik antönend. „Ja“, nuschelt Herr H., „wieder zwei gestorben.“ Nadine und ich gucken uns an. Herr H. deutet auf zwei große Traueranzeigen in der regionalen Presse. „Alles mein Baujahr.“ Ich gucke auf die Anzeige und rechne. Herr H. ist also 80 Jahre alt – zehn Jahre jünger als mein eigener Opa. „Da nehmen Sie sich aber kein Beispiel dran“, brülle ich. „Sie sind noch jung. Mein Opa ist zehn Jahre älter als Sie. Ihm sage ich immer, dass ich ihn frühestens in 30 Jahren aus dem Dienst entlasse.“ „Auweiauwei“, kichert Herr H. Und dann fällt ihm etwas ein: In der Zeitung gab es ja nicht nur die zwei Traueranzeigen, sondern auch Partnergesuche. Er fragt Nadine, was sie vom Inserat zweier Krankenschwestern im mittleren Alter halten würde. „Wäre doch praktisch“, meint Herr H. Lachend stimmen wir ihm zu. Als Nadine alle Medikamente gestellt, geprüft und dokumentiert hat, hilft sie Herrn H. in seine Thrombosestrümpfe. Als sie die leeren Medikamentenpackungen entsorgen will, fällt ihr Blick ins Schlafzimmer: „Sollen wir noch fix Ihr Bett machen?“ Herr H. antwortet wie aus der Pistole geschossen, „Das wäre wirklich klasse.“

Frau H.s Verwandlung

Der Bettbezug hatte sich völlig verdreht, sodass ihn Nadine und ich komplett abziehen, das Bettzeug aufschütteln und wieder neu beziehen. Mittlerweile steht Herr H. in der Tür und sein Blick fällt auf die unbenutzte Seite des Bettes. „Ich habe ein neues Bild hingestellt und… und… So sah sie zum Ende aus und…“ Weiter kommt Herr H. nicht. Er weint bitterlich. Nadine lässt die Bettdecke fallen und nimmt ihn in den Arm. Während ich das Bett zu Ende mache, fällt mein Blick auf besagtes Foto. Eine abgemagerte Frau mit tiefen Furchen und dunklen Augenringen ist darauf zu sehen. Sie erscheint mir schon fast durchsichtig. Ich glaube in ihren Gesichtszügen eine Frau wiederzuerkennen, die im Wohnzimmer aus jeder Ecke auf uns mit einem runden und fröhlichen Gesicht heruntergestrahlt hat und bin erschrocken ob der Veränderung.

Ich schlucke den dicken Kloß in meinem Hals herunter und versuche nicht daran zu denken, wie es meinem Großvater erging, als meine Oma starb. Als wir wieder vor dem Auto stehen, frage ich Nadine nach der Geschichte von Herrn H. Auch sie wirkt betroffen. Sie erzählt mir von einer liebevollen Ehe, in der Herr H. seine Frau auf Händen trug. Doch dann kam der Krebs. Er fraß sich durch Frau H. und machte aus einer lustigen Frohnatur mit braunem, dauergewelltem kurzen Haar und einigen Pfunden zu viel auf den Rippen binnen weniger Jahre den blassen Schatten, dessen Foto nun im Schlafzimmer auf dem Nachttisch steht. Vor einem Jahr sei sie dann gestorben, schließt Nadine ihre Erzählung ab.