Das Pflegezentrum Groß Köris
„Guten Morgen. Wie haben Sie geschlafen?“, begrüßt Vanessa Valentin Rosika Austen, die bereits putzmunter in ihrem Bett liegt. Geschlafen hätte sie grundsätzlich gut, doch neuerdings machen ihr Krämpfe im Bein zu schaffen. Vanessa zieht die Jalousien hoch und die Morgensonne offenbart eine wunderschöne Einraumwohnung inklusive Balkon. Der Blick nach draußen wird von etlichen bunten Orchideen gerahmt, die die Wohnküche zieren. Doch mit der Dunkelheit verfliegt auch die Ruhe. Beide Frauen sind wie die Jalousien hochgefahren und haben Betriebstemperatur erreicht.
Sie necken sich, tauschen Nachrichten und Grüße von gemeinsamen Bekannten und Freunden aus, es wird gelacht und gescherzt. Kaum zu glauben, dass zwischen den beiden Frauen fast 60 Jahre Altersunterschied liegen, denke ich mir, während die beiden schnatternd ins Bad weitergezogen sind. Es steht Körperpflege an. Doch auch wenn Frau Austen mittlerweile etwas Hilfe braucht, ist die 87-Jährige fit, sehr fit. Ein kleiner Heimtrainer steht in der Ecke, auf den ich sie anspreche, als sie wieder aus dem Bad kommt. Sie macht gerne Sport, ging früher in Sportkurse. Und als ob das nicht Beweis genug sei, streckt sich Rosika mit ihren Armen nach oben, nimmt Schwung und berührt in der nächsten Sekunde mit ihren Fingern ihre Zehenspitzen. Ich staune. Wann habe ich das letzte Mal im Stand meine Zehen mit den Händen berührt? Oder besser gesagt berühren können, denn die Gegendemonstration offenbart, dass es nur für die Knöchel reicht. Das liegt bestimmt an der schweren Kamera, die über meinem Rücken hängt, meine ich verlegen – wohl wissend, dass ihr Gewicht mich überhaupt erst soweit nach untengezogen hat.
Alles im Fluss
Frau Rosika Austen ist Mieterin einer unserer seniorengerechten Wohnungen im Pflegezentrum Groß Köris. Und Pflegekraft Vanessa Valentin ASB-Mitarbeiterin dieses Zentrums. Genauer gesagt vorrangig im ambulanten Pflegedienst. Denn die Grenzen sind hier fließend. Kolleginnen aus der Tagespflege und die des ambulanten Dienstes unterstützen sich immer wieder gegenseitig. „Das ist eines der unglaublichen Vorteile, die dieses im Jahr 2020 eröffnete Pflegezentrum mit sich bringt“, ist sich Chefin Denise Garbotz mit allen Kolleginnen einig. Und so sorgt sie dafür, dass alle Mitarbeiterinnen sich in jedem Arbeitsbereich auskennen. So können bei Engpässen die Kolleginnen aus der Tagespflege Touren übernehmen, umgekehrt kennen alle ambulanten Kräfte die Abläufe und Räume der Tagespflege aus dem ‚ff‘. Eine Win-Win-Situation für alle.
Doch auch für Rosika Austen sind die Grenzen zwischen dem seniorengerechten Wohnen, dem ambulanten Pflegedienst und der Tagespflege fließend. Während Vanessa bereits zur nächsten Nachbarin weitergegangen ist, legt Rosika letzte Hand an ihre Garderobe und Geschmeide an. Das schöne Wetter der vergangenen Tage lockt in der Tagespflege zu einem Ausflug in den chinesischen Garten am Zeuthener See. Was bedeutet es für sie, hier alles beieinander zu haben? „Abwechslung pur. Ich sehe Freunde, alte Bekannte wieder. Das hätte ich Zuhause so nicht mehr gehabt.“ Frau Austen wohnte Zeit ihres Lebens in Märkisch Buchholz und vermisst die kleinste Stadt des Landkreises Dahme-Spreewald, ihr Zuhause und vor allem ihren Garten wirklich sehr. Ein kleiner Trost ist die Lounge für die Mieterinnen der Wohnungen. Wie in einem kleinen Wintergarten mit Ausblick werden die modernen Ohrensessel über und über mit grünem Dickicht gerahmt. Als passionierte Gärtnerin tobt sich Frau Austen nun an diesen Zimmerpflanzen aus. Während in ihrer eigenen Wohnung vor lauter Orchideen kein freier Platz mehr zu finden ist, bietet die Lounge gerne ein Zuhause für eine weitere Monstera oder Grünlilie. Während sich Rosika um ihre grünen Schützlinge kümmert, erwacht die Tagespflege eine Etage tiefer langsam zum Leben.
Klassentreffen der anderen Art
Maria Kiehl bereitet in der Tagespflege das Frühstück vor und deckt die Tische für die Gäste. Frühstückseier werden gekocht, Käse- und Wurstplatten gelegt, Obst und Gemüse geschält und geschnitten. Neben Marmelade, Honig und Wurstsalaten gibt es Tee, Saft, Kaffee. Ein zweiter Kollege bereitet die Brötchen, Brote oder Toasts für die Gäste vor, die sich ihr Essen nicht mehr selber zubereiten können. Mittlerweile kennt er alle Präferenzen. Wer isst gerne zwei Eier, wer mag lieber dunkle Brötchen, wer hat es lieber süß oder herzhaft am Morgen.
Und langsam trudeln die ersten Gäste der Tagespflege ein. Viele werden aus den umliegenden Dörfern wie Tornow, Teupitz, Münchehofe, Töpchin, Schwerin oder Halbe mit dem Fahrdienst gebracht. Andere kommen in Begleitung der Familie, oder können gar zu Fuß von einer Mitarbeiterin des Zentrums abgeholt werden. So auch wie die 95-jährige Ursel Schoof, die direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite wohnt. Die Räume füllen sich mit Lachen, angeregten Gesprächen, hier und da werden Umarmungen ausgetauscht. Alle versammeln sich in einem der Ruheräume in bequemen Sesseln und bekommen dampfenden Kräutertee gereicht. Man wartet noch auf den zweiten Bus mit den anderen Gästen, bis das Frühstück beginnt. Derweil werden Geschichten ausgetauscht über alte gemeinsame Lehrer und Mitschüler, ehemalige Kollegen, die der Mann oder die Cousine von einem anderen Tagesgast waren, welche Baustelle sich wieder verzögert und was der gemeinsame Arzt zu dem einen oder anderen Knie urteilte, und mit welchem Unfug die Kinder damals einen Skandal im Dorf provozierten. Bald möchte man meinen, dass sich gute Freunde Jahrzehnte nicht mehr gesehen hätten und sich nun hier erstmals wieder begegnen. Auch Rosika Austen ist dazu gestoßen. Just als beschlossen wurde, dass das Frühstück nun startet, trudeln die anderen Gäste ein. Etwas enttäuscht, dass sie das Morgentee-Ritual verpasst haben, gesellen sie sich zu den anderen an den Frühstückstisch und versuchen die ebenso verpassten Neuigkeiten aufzuholen. Da aber auch sie selbst wiederum News mitgebracht haben, steigt der Geräuschpegel nochmal deutlich an. Derweil werden Wurst- und Marmeladenbrötchen genüsslich verspeist. Heimlich winkt eine Seniorin einen Pfleger heran. Sie hat morgen Geburtstag und würde gerne für alle Eierlikör in Waffelbechern spendieren. Ob er ihr alles besorgen könne? Das Frühstück neigt sich dem Ende. Während einige Gäste diskutieren, ob sie nachher lieber Rommé oder Doppelkopf spielen wollen, helfen andere mit beim Abräumen und wiederrum andere machen sich bereit für ihren kleinen Tagesausflug.
In der Lounge genießen die Mieterinnen und Mieter der seniorengerechten Wohnungen das schöne Wetter, die Aussicht und die Ruhe.
Im Hintergrund wird in der Küche das Frühstück vorbereitet, während Carola Welz, stellvertretende Leiterin der Tagespflege, die Tische deckt.
In der Tagespflege wird der Pflegeauftrag vollumfänglich erfüllt. Das betrifft ebenso die Gabe von Medikamenten.
Süßes vor Traumkulisse
Das schöne Wetter zieht die Gäste der Tagespflege in den chinesischen Garten nach Zeuthen. Die neunköpfige Gruppe unter der Leitung von Carola Welz, Leiterin der Tagespflege, macht sich bereit: Jäckchen werden zusammengesucht, Rollatoren gepackt, den Seniorinnen nach und nach in den Bus geholfen. Durch die Dörfer und Städte bringt der Blick nach draußen neuen Gesprächsstoff. Wer hat denn jetzt nach Frau Müller die Kneipe XY übernommen? Was wurde aus der Renovierung dieses oder jenen Wasserturms? Über vieles kann auch noch Rosika Austen informieren. Sie war Hauptbuchhalterin des nahegelegenen Raiffeisen-Marktes. Als leidenschaftliche Buchhalterin und Prüferin hielt sie jahrzehntelang nicht nur die Geschäfte des Baustoffhandels zusammen, sondern war durch ihre Tätigkeit an prominenter Stelle im ländlichen Raum gut über dieses oder jenes Bau- und Sanierungsvorhaben informiert. Da hält man sich auch nach der Rente gerne weiterhin auf dem Laufenden. Kurz bevor wir am chinesischen Garten sind, halten wir für einen kleinen Zwischenstopp am großen REWE-Markt in Zeuthen. Um den Besuch zu krönen, wird für alle ein Nusseis in der Waffel spendiert. Unbemerkt schafft es unser Fahrer, auch noch die nachgefragten Waffelbecher und Eierlikörflaschen einzukaufen und verstaut sie sicher vor den neugierigen Augen in den Kofferraum.
Endlich sind wir da. Völlig unscheinbar hinter doppelten Mauern vor Blicken geschützt eröffnet sich ein wundervoll angelegter Garten mit Koiteich, der dem Besucher erst nach und nach seine wahre Schönheit offenbart, gekrönt vom unverbauten Panorama des Zeuthener Sees. Überall blüht und summt es. Eine leichte Brise vom See und das leckere Waffeleis machen die sommerlichen Temperaturen bei einem wolkenlosen Himmel zum absoluten Tageshighlight für Rosika und ihre Gesellschaft.
Tagesgast Evelyn Schulz und Betreuerin Karina Hensel auf dem Weg zum Bus.
Bei der 45-minütigen Fahrt über die Dörfer und Landstraße entdecken die Senioren allerlei Neues.
Der wunderschöne Ausblick auf den Zeuthener See wird mit einem Nusseis versüßt.
Wie zu Hause
Wieder zurück in der Tagespflege folgt das Mittagsmenü mit Wahlessen, welches das Team der Zentralküche der Zeesener Werkstatt für das Pflegezentrum und auch viele andere ASB-Einrichtungen gekocht hat. Die meisten Seniorinnen ziehen sich für die Mittagsruhe in die Gästebetten oder Ohrensessel zurück. Auch Rosika braucht die Pause und entschwindet satt und zufrieden hoch in ihre Wohnung. Derweil findet auf der wunderschönen Terrasse mit großem Erlebnisgarten samt Barfusspfad und Duftinsel eine Teambesprechung statt. Welche Weiterbildungen werden angeboten, Belehrungen müssen aufgefrischt und wichtige Infos zu Gästen und Kundinnen werden ausgetauscht und neue Abläufe besprochen. Auch Vanessa ist wieder dabei. Auf sie hat Einrichtungsleiterin Denise Garbotz besonders ein Auge geworfen und bemüht sich, ihr die Fachkraftausbildung schmackhaft zu machen. Es kommt viel Zuspruch aus dem Team. Und vielleicht ist es genau der Schubs, den Vanessa braucht, denn sie ringt schon länger mit sich, ob sie diesen Schritt geht. Vanessa arbeitet seit knapp drei Jahren beim ASB Mittel-Brandenburg. Sie ist eine Quereinsteigerin wie im Bilderbuch. Nach enttäuschenden Erfahrungen vom Traumberuf als Gärtnerin brach sie die Ausbildung ab. Das Jobcenter vermittelte Vanessa in die Betreuung von Seniorinnen und bot ihr später eine Ausbildung als Sozialassistentin an. Das ist jetzt über zehn Jahre her. Nach dem großen Pflegebasiskurs wurde sie direkt von ihrem Praktikumsgeber in Berlin übernommen. Doch der Liebe wegen zog sie wieder zurück aufs Land. Die ständige Pendelei, nun auch noch mit einem kleinen Kind wurde auf Dauer einfach zu viel. Eine befreundete Mutti empfahl ihr den Job. „Ich bin hier zum Vorstellungsgespräch rein und wusste sofort ‚Das ist es!‘“, schwärmt Vanessa noch heute von ihrem ersten Eindruck. Mittlerweile kann sie ihr Bauchgefühl auch besser begründen: „Dieser Zusammenhalt ist ganz besonders. Das ist wie Familie, zu der du nach Hause kommst. Nicht nur unter den Kollegen, sondern auch bei den Seniorinnen und Senioren.“
Bis morgen
Diese sind nun wieder erwacht und sammeln sich an der Kaffeetafel. Und als wäre der Tag nicht lang genug, um sich bei jedem auf den aktuellsten Stand zu bringen, schwillt das Stimmgewirr wieder an und über Tische und Plätze hinweg werden lustige Geschichte über gemeinsame Freunde erzählt oder dass ein Bekannter nunmehr zum sechsten Mal Urgroßvater geworden ist. Dieses familiäre Durcheinander beruhigt sich auch erst dann wieder, als es halb vier für die meisten Tagesgäste wieder nach Hause geht. Fix werden noch Verabredungen für den nächsten Tag getroffen. Wer nimmt an dem Sportangebot der Tagespflege teil, wer hat sich für die Gartengestaltung eingetragen und ist die Doppelkopfrunde für morgen eigentlich schon komplett? Auch Rosika Austen geht nun wieder hoch. Warum geht sie nur zweimal die Woche hinunter zur Tagespflege, frage ich sie. Frau Austen lacht und schmunzelt: „Ich habe ja schließlich auch noch andere Dinge zu tun.“ Oben angelangt holt sie den Jahresfinanzbericht des Heimatvereines Märkisch Buchholz vor, den sie als Mitglied der Revisionskomission des Vereins bis morgen prüfen und freigeben muss. Sie ist und bleibt eine Märkisch Buchholzerin und Märkisch Buchholz bleibt bei ihr. Doch hier steht sie endlich wieder fest mit beiden Beinen im Leben und das Leben kommt zu ihr ins Haus – ins ASB Pflegezentrum Groß Köris.