Eine zweite Familie
Es gibt Klüfte, die sind so gewaltig, dass sie unüberbrückbar erscheinen: Große Altersunterschiede, gegensätzliche Kulturen oder verschiedene Glaubensrichtungen und Überzeugungen können große Distanzen erzeugen. Doch wenn uns so wenig eint, strahlen dann nicht diese Gemeinsamkeiten noch heller?
Ein Drittel unserer Lebenszeit verbringen wir auf Arbeit. Kein Wunder, dass wir unsere Kolleginnen und Kollegen länger und öfter sehen, als manchmal die eigene Familie. Sie sind die „unfreiwillige“ soziale Erweiterung unseres Lebens, denn mit wem wir zusammenarbeiten, können wir nur selten beeinflussen. Und trotz dem, dass wir keine Wahl haben und anders als bei unseren Freunden unsere Vorliebe für bestimmte Menschentypen und Charaktere nicht ausleben können, entstehen auf Arbeit oft ganz besondere Beziehungen zwischen den Menschen. Manche gipfeln in Freundschaften, andere in Affairen oder Ehen und wiederum andere finden auf der Arbeit eine Familie.
Doch warum gelingt uns auf Arbeit mit den Kolleginnen und Kollegen, was uns im Privatleben oft Schwierigkeiten bereitet, nämlich Andersartigkeit zu überwinden und Gemeinsamkeiten zu stärken? Das wollten wir von einem Paar wissen, das unterschiedlicher nicht sein könnte.

Was uns unterscheidet
Wir sind verabredet mit Thi Diep Duong und Kaddour Regad. Wie die Namen bereits verraten, stammen beide Kollegen aus ganz unterschiedlichen Kulturen und Herkunftsländern. Während Diep vor fast sieben Jahren als junge Studentin ihr Medizinstudium in Vietnam aufgrund schlechter Jobperspektiven abbrach und nach Deutschland kam um hier ihre Pflegefachkraftausbildung zu machen und Arbeit zu finden, startete Kaddours berufliche Laufbahn im über 10.000 Kilometer entfernten Algerien. Der gelernte Schlosser hatte im Laufe seiner Berufsjahre bereits viele Jobs in ganz unterschiedlichen Branchen gehabt, bis er irgendwann für die Arbeit und die Liebe seinen Weg nach Deutschland fand. Doch auch er geriet in eine berufliche Sackgasse. Als sogenannter Ein-Euro-Jobber hielt er sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, bis seine Arbeitsvermittlerin die Reißleine zog. Zu oft wurde seine Arbeitseifer missbraucht und ausgenutzt, ohne, dass daraus eine echte berufliche Perspektive entstand. Sie vermittelte ihm den Quereinstieg in die Pflege. Gerne hätte er die Pflegefachkraftausbildung gemacht, aber dafür fühlte er sich bereits zu alt. „Wäre ich jünger gewesen, so um die 50 vielleicht, dann hätte ich die Ausbildung definitiv gemacht“, ist sich der mittlerweile über 70-jährige Kaddour sicher. Nach einigen Jahren in der Pflege wechselte er schließlich 2012 ins Demenzheim Ludwigsfelde und blieb bis heute. Vor fast sieben Jahren, 2018, traf er hier das erste Mal auf die damals 21-jährige Diep.
Alles anders und trotzdem gleich
Fast 50 Lebensjahre, unterschiedliche Berufe und 10.000 Kilometer trennten Diep und Kaddour, bis sich ihre Leben und Biografien im Demenzheim Ludwigsfelde endlich trafen. Doch wo die Unterschiede nicht größer hätten sein können, fanden sie im Laufe der Zeit zueinander und entwickelten ein besonderes Verhältnis. „Das ist meine Enkelin, meine Arbeitsenkelin“, strahlt Kaddour als er Diep väterlich in den Arm nimmt und beide miteinander feixen und lachen. Im Grunde teilen sie ein ähnliches Schicksal. „Wir sind beide weit weg von unserer Heimat und unserer Familie“, fasst Diep eine Vielzahl ungeahnter Konsequenzen zusammen, die damit einhergehen. Ähnliche Sprachbarrieren, Heimweh, gleiche Hürden in der kulturellen Anpassung an Deutschland sowie die selben bürokratischen Herausforderungen mit den Ämtern und einen Arbeitsalltag, den man noch nicht kennt – um nur die offensichtlichsten Stolpersteine anzureißen.
„Kaddour hatte viel mehr Erfahrung als ich. Immer wenn ich nicht weiter wusste, hatte er ein offenes Ohr und Rat. Er hat mir viel geholfen.“
Auf die Einstellung kommt es an
Und so wuchs über die Jahre zusammen, was zusammengehört: eine Arbeitsfamilie. Bis heute ist der Wunsch, gemeinsam füreinander da zu sein, ungebrochen. Wo Dieps Kräfte versagen, helfen Kaddours großen Schlosser-Hände und -Muskeln. Herrscht auf Arbeit Stress, springt Diep ihrem „Großvater“ zur Seite und untersützt ihn bei der Pflege der Bewohner und Bewohnerinnen. Dass Diep als Pflegefachkraft eigentlich überqualifiziert ist, interessiert nicht. Als Familie ist man füreinander da. Ganz proaktiv und selbstverständlich.
Wie Kaddour und Diep miteinander umgehen, merken wir, dass der große Altersunterschied zwischen den beiden ganz offensichtlich ihr Verhältnis zueinander geprägt hat. Hier arbeiten keine gleichwertigen Freunde oder Kollegen miteinander. Nein, hier kümmert sich ein (Groß-)Vater um seine (Enkel-)Tochter. Hier achtet eine (Enkel-)Tochter ganz genau darauf, was ihr über 70-jähriger (Groß-)Vater noch schafft und wo er Hilfe braucht.
War denn der Umstand, dass zwischen den beiden Kollegen fast zwei Generationen liegen, je ein Problem oder ein schwieriges Thema auf Arbeit? „Nein“, antworten beide fast wie aus einem Munde. Viel wichtiger als das Alter sei, dass man die gleichen Werte und Einstellungen zur Arbeit teile. Beinah simultan kommen sie über den jeweils anderen ins Schwärmen. So zeigt sich deutlich, was den beiden wichtig ist: Fleiß und Hilfsbereitschaft. Werte, die sie tagtäglich in ihrem Gegenüber finden, sehen und schätzen.
Diese Werte könnten ja vielleicht eine Frage der Erziehung sein, vielleicht eine Frage des Charakters aber doch sicherlich keine Frage des Alters, oder?!























